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Messerkriminalität und Realitätsverlust - Teil 2

Messerkriminalität

Teil 2, PKS

Fakten statt Statistik-Fantasien

Die Grundlagen sicherheitspolitischer Entscheidungen müssen, aufgrund der weitreichenden Folgen für die Bevölkerung, objektive Daten sein. Was liegt näher, als die offizielle Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) heranzuziehen, wenn es darum geht, die Kriminalitätsentwicklung in Deutschland zu betrachten und Maßnahmen zum Schutz der Arbeitgeber der Politiker einzuleiten. Immerhin enthält diese umfangreiche Statistik alle gemeldeten Straftaten und sollte so ein relativ genaues Abbild der Zustände in unseren Schulen, auf den Straßen und aller sonstigen relevanten Bereiche ermöglichen1.

Die PKS – ein ungeeignetes Werkzeug in der Sicherheitsdebatte

Und obwohl diese Statistik seit Jahrzehnten die Sicherheitsdebatte in Deutschland bestimmt, ist sie genau dafür nicht geeignet.
In den Händen unseriöser oder unbedarfter Menschen ist sie, wie viele Statistiken, aber ein mächtiges Werkzeug, um die Realität so verwaschen darzustellen, dass berechtigte Fragen besorgter Menschen in einem Sumpf von Zahlen untergehen. Und die öffentliche Sicherheit gleich mit. Der fahrlässige Umgang mit diesen Daten kostet jeden Tag Menschenleben, zerstört hoffnungsvolle Lebensläufe und vernichtet Existenzen. Warum ist das so und wo liegen die Schwachstellen, über die kaum jemand spricht.

Was die PKS wirklich misst – und was nicht

Was die PKS misst sind lediglich die angezeigten Straftaten, die an die zur weiteren Entscheidung in einem Kalenderjahr an die Staatsanwaltschaft abgegeben wurden. Und sie wäre auch zweckmäßig, wenn man davon ausgehen könnte, dass so gut wie jede Straftat angezeigt wurde.
„Wenn auf jedem Grab, in dem eine Leiche liegt, deren Tötung nicht erkannt worden ist, eine Kerze stünde, wären die Friedhöfe in Deutschland hell erleuchtet.“2

Das Dunkelfeld: Die große Unbekannte der Kriminalitätsstatistik

Dieses Zitat macht zwar keinen Mut, regt aber dazu an, über die massiven Auswirkungen dessen nachzudenken, was im Zusammenhang mit der statistischen Erfassung von begangenen Straftaten das „Dunkelfeld“ genannt wird. Warum ist die statistische Aufklärungsquote laut PKS bei Morden so beruhigend hoch, wenn Fachleute davon ausgehen, dass die Strafverfolgungsbehörden die meisten dieser Verbrechen erst gar nicht bemerken? Wenn schon in dem Bereich der Morde und der sonstigen Tötungsdelikte, in dem die intensivsten und aufwändigsten Ermittlungen der Polizei geführt werden, viele Verbrechen unerkannt und unaufgeklärt bleiben, wie ist das dann im Zusammenhang mit der Bekämpfung der sogenannten Massenkriminalität - Raub, Vergewaltigung, Körperverletzung, Einbruchdiebstahl, Bedrohung, entwendete Kraftfahrzeuge etc. In den Kommissariaten, in denen diese Delikte bearbeitet werden, stehen regelmäßig weitaus weniger personelle und technische Ermittlungskapazitäten zur Verfügung.

Nun, die Lage ist dort dramatisch schlechter und das hat direkte Auswirkungen auf die PKS. Wie bereits von uns beschrieben (Link), geht das Bundeskriminalamt (BKA) davon aus, dass durchschnittlich lediglich ca. 30 Prozent der Gewaltdelikte angezeigt werden. Anders ausgedrückt, 70 Prozent der Gewaltdelikte werden nicht angezeigt. Es ist zulässig darüber nachzudenken, ob diese Zahl in Großstädten nicht viel höher ist als offiziell dargestellt. Aber damit nicht genug. Die PKS gibt auch keine Auskunft darüber, was im Verlauf der Ermittlungen mit dem Verfahren, den Opfer und Tätern weiter geschieht. Wird das Verfahren eingestellt? Wird der Täter verurteilt oder war er unschuldig, und wenn er verurteilt wird, zu welchem Delikt und zu welcher Strafe? Aber ebenso wichtig ist doch, wie sieht das Schicksal des Opfers aus? Kann es sein Leben weiterleben oder wurde es durch die Straftat zerstört?

Beispiel aus der Praxis: Wenn ein versuchter Mord nur als Raub zählt

Halten wir hier einmal kurz inne und betrachten, was es in der Realität bedeuten kann, eine unbedeutende Zahl dieser selenlosen Statistik zu sein. Der Jugendliche „A“ wird von zwei polizeibekannten Straftätern schon im Bus wegen seiner teuren Kopfhörer angesprochen. Als er den Bus verlässt, folgen ihm die Täter und stechen ihn nieder, werfen ihn in ein Gebüsch, wo er von der Straße nicht mehr gesehen werden kann, nehmen vorher noch seine Kopfhörer an sich und fliehen. Nur ein riesiger Zufall rettet dem Opfer das Leben. Das Opfer überlebt zwar, hat aber für den Rest seines Lebens Schmerzen, bricht seine Ausbildung ab und schließt sich zu Hause ein. Einer seiner wenigen Kontakte in die Welt ist der Polizist, der in seinem Fall ermittelt hat (und der seitdem an unserem Rechtssystem zweifelt). Das aussichtsreiche Leben des jungen Mannes und seiner Familie wurde durch die Tat ein für alle Mal zerstört. Wo fanden die Ermittlungen aber statt? Bei der Mordkommission, wegen eines versuchten Raubmordes? Nein, aus Gründen, auf die wir später noch zu sprechen kommen, wie so oft in einem kleinen überlasteten Kommissariat, das für solche Ermittlungen weder personell noch von der Ausstattung her, für die Bearbeitung dieser Kapitaldelikte geeignet ist. Und damit das geschehen konnte, musste das Verbrechen schon bei der Anzeigenaufnahme vom versuchten Raubmord, zum Raub degradiert werden.

Verzerrte Realität: Wenn Statistik zur Illusion wird

Und was bedeutet das für die PKS? Der Fall fließt lediglich als Raub mit Messereinsatz in die Statistik ein. Da die Täter ermittelt werden konnten, sogar als geklärte Straftat. Was die PKS ebenfalls nicht darstellt, ist der weitere Verlauf des Verfahrens bei der Staatsanwaltschaft und vor Gericht. Während die Täter, aufgrund unzureichender Ermittlungskapazitäten, die Milde des Rechtsstaates zu spüren bekamen, wurde das Opfer von Seelenlosigkeit des Systems noch tiefer in den Abgrund gezogen. Da jeder Polizist solche Sachverhalte kennt, und diese auch regelmäßig Themen in den Medien sind, kann niemand ernsthaft behaupten, es handele sich hier um „statistische“ Ausreißer.
Auch Gewerbetreibende der Hauptstadt kommen zu ähnlichen Schlüssen: „Laut Statistik gab es hier vergangenes Jahr vielleicht 65 Überfälle“, sagt Wöbke. „Aber ich kenne schon zehn am Tag. Da stimmt was nicht.“3  Selbst, wenn es nicht jeden Tag zehn, sondern durchschnittlich nur die Hälfte wären, ist das Missverhältnis PKS vs. Realität enorm: 65 Straftaten laut PKS – 1825 Straftaten im echten Leben. 28-mal mehr, als von der PKS erfasst!

Vergewaltigungen im Dunkelfeld – das Schweigen der Zahlen

Noch schlimmer sieht die Lage bei den Vergewaltigungen und Sexualdelikten aus. „Jede siebte Frau erlebt einmal in ihrem Leben eine Vergewaltigung oder schwere Form sexueller Nötigung. Allerdings verbleibt davon der allergrößte Teil im Dunkelfeld: Nur 5% der Betroffenen zeigen die Tat an.“4 5 Bei einigen Sexualdelikten liegt die Anzeigenquote sogar nur bei etwa einem Prozent.6 Wie kann man dann die PKS-Zahlen politisch noch ernst nehmen? Das ist ein Schlag ins Gesicht der Opfer.7
Ebenso wie die von dieser Statistik unterschlagene Zahl der zigtausend Fach im In- und Ausland vergewaltigten Mädchen im Grundschulalter, die in den letzten Jahren zwangsverheiratet wurden.8 Aber worüber die Verantwortlichen schweigen wollen, können sie mit den weltfremden PKS-Zahlen begründen.

Angst vor Anzeige: Wenn Opfer und Zeugen allein gelassen werden

Aber nicht nur Opfer von Sexualdelikten scheuen sich massiv davor eine Strafanzeige zu stellen. Selbst Ordnungswidrigkeiten anzuzeigen ist heute oft mit einem erheblichen Risiko für die Gesundheit verbunden. Und wer eine Straftat anzeigt, steht so gut wie immer mit vollen Personalien in den Ermittlungsakten. Was es für einen Normalbürger bedeutet kann, gegen Banden, Clans, oder gewalttätige Einzeltäter auszusagen, darüber könnte der Zeugenschutz Bücher schreiben.9 Wenn er die Zeit dafür hätte, denn auch diese Dienststellen sind bundesweit vollkommen überlastet und müssen viele Fälle ablehnen, in denen sie eigentlich zuständig wären. Die Zeugen müssen dann selbst für ihre Sicherheit sorgen, was für einen Menschen mit Familie und einem geregelten Leben unmöglich ist. Wenn das Vertrauen in den Schutz des Rechtsstaates fehlt, wird daher kein vernünftiger Mensch sich dem Risiko aussetzen, dass mit einer Strafanzeige heutzutage für ihn und seine Lieben verbunden ist. Von dieser Problematik erzählt die PKS natürlich nichts, sie ist ja nur eine seelenlose Ansammlung von Zahlen. Aber sie profitiert von der schwindenden Bereitschaft der Menschen, die von ihnen beobachteten Straftaten zu melden. Das Land ist sicherer geworden, wenn weniger Strafanzeigen in der PKS registriert werden als im Vorjahr? Nein, die Angst ist größer geworden.10

Gefühlte Sicherheit vs. statistische Beruhigung

Es ist auch völlig egal, ob es nur fünf, zehn oder dreißig Prozent der relevanten Taten sind, die angezeigt werden. Tatsache ist, die PKS taugt nicht um die tägliche Kriminalität, mit der die Bürger konfrontiert wird, auch nur annähernd realistisch darzustellen. Aus diesem Grund ist die von den Bürgern wahrgenommene sicherheitspolitische Schieflage der Gesellschaft, die von Politikern gern als „nur gefühlte“ Kriminalität verspottet wird viel dichter an der Realität als die täglichen „Lügen mit Zahlen“.11

Die gefährliche Macht der Zahlenpolitik

Und um es nochmal ganz deutlich zu sagen: Es ist der vollkommen unverständliche Umgang der Entscheidungsträger mit der untauglichen Statistik, der es erlaubt und falsch begründet, dass den Menschen der Schutz vor Verbrechen häufig vorenthalten wird.
Die von ideologischen Fantasien bereinigten Zahlen sprechen eine deutliche Sprache.
Wir werden im Zusammenhang mit der Messerkriminalität, Bandenkriminalität und anderen Gewaltdelikten mehrfach darauf zurückkommen.

Die Kontrolldelikte: Unsichtbar durch fehlende Kontrollen

Eine weitere, in der Politik manchmal willkommene, Schwäche der PKS ist die Darstellung der Kontrolldelikte: Menschenhandel (der besser „moderner Sklavenhandel“ genannt werden sollte), Drogenhandel, illegales Glücksspiel, illegaler Aufenthalt. Ohne Kontrolle einschlägiger Lokalitäten und Orte werden die Daten dazu in der nächsten „Kriminalstatistik“ drastisch zurückgehen. Wer als Entscheidungsträger die tatsächlichen Zahlen des Menschenhandels nicht in den Medien sehen will, muss nur wirksame Kontrollen verhindern. Nimmt das Glücksspiel überhand und lässt die Statistik nach oben schnellen, wird das Personal gekürzt oder mit Zusatzaufgaben überzogen. Gerade im Zusammenhang mit dem modernen Sklavenhandel und der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Frauen ist diese Vorgehensweise in höchstem Maße unmoralisch und grausam.

Einzelpersonen statt Netzwerke: Die Verschleierung organisierter Kriminalität

Auch reicht bei Gruppenvergewaltigungen, bandenmäßigem Diebstahl, Clan-Kriminalität oder digital organisierten Betrugsdelikten ein Tatverdächtiger für einen „aufgeklärten“ Fall – obwohl das Täterumfeld weiter besteht.
Die PKS verschleiert dadurch die kriminellen Netzwerke, indem sie komplexe Lagen in Einzelpersonen auflöst. Die PKS trägt so dazu bei, dass problematische Entwicklungen, insbesondere bei OK-Delikten oder gruppenbezogener Jugendgewalt, massiv unterschätzt werden können und engagierte Ermittler und Politiker keine Chance haben, sich dagegen zu wehren.

Nicht bearbeitet, nicht gezählt: Das Problem der Liegevermerke

Ermittlungsverfahren, die wegen Personalmangels nicht bearbeitet werden können, fließen ebenfalls nicht in die PKS ein. Sie ist eine reine Ausgangsstatistik. Wer denkt, dass diese Zahl keine große Rolle spielt, wird sich vielleicht wundern: „Durch eine erneute Anfrage des CDU-Innenexperten Peter Trapp (71) im Abgeordnetenhaus kommt heraus: Zu 47.857 Ermittlungsverfahren mussten im vergangen Jahr 97.059 Liegevermerke geschrieben werden. Immerhin: 31.000 Verfahren weniger als im Jahr 2017.“12  Auch diese Zahlen variieren von Jahr zu Jahr, sind aber konstant hoch und werden kaum von der Öffentlichkeit wahrgenommen oder thematisiert. 50.000 Strafverfahren mehr als in der Statistik erfasst, machen einen Unterschied.

Die trügerische Aufklärungsquote der PKS

Dass die „Aufklärungsquote“ der PKS ebenfalls wenig Substanz hat, wird klar, wenn berücksichtigt wird, dass spätere Verfahrenseinstellungen und Freisprüche nicht rückwirkend in der PKS berücksichtigt werden. Ob die in der PKS erfasste Straftat wirklich aufgeklärt wurde, oder ein ganz anderer dafür verantwortlich war, kann oft mit Fug und Recht bezweifelt werden. Und wer in der Zeitung Sätze wie diese liest: „Nur 2,6 Prozent aller Einbrecher werden nach einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) am Ende verurteilt. Dies habe die Auswertung von 3668 von der Polizei im Jahr 2010 in Berlin, Bremerhaven, Hannover, München und Stuttgart registrierten Einbrüchen ergeben, teilte das KFN am Dienstag mit.“13, weiß spätestens dann, dass die PKS die ganze furchtbare Realität nur sehr selektiv wiedergibt.
Die Zahlen zu den tatsächlich verurteilten Straftätern variieren je nach Delikt, aber sie geben in kleinem Fall Anlass zur Beruhigung. Erst recht nicht, wenn auch das Strafmaß keine Abschreckung bedeutet. Weder general- noch spezialpräventiv.

Der nächste Schritt: Kriminelle nutzen Künstliche Intelligenz

In der nächsten Stufe der Kriminalitätsentwicklung werden schwerkriminelle Banden künstliche Intelligenz (KI) nutzen, um ihre Verbrechen vorzubereiten und durchzuführen. Bereits eine kurze von uns durchgeführte realistische Simulation dessen was geschieht, wenn etwa Clans die KI für ihre Zwecke nutzen würden, zeichnete ein düsteres ‚Bild dessen, was uns bevorsteht.

Eine Statistik, die Täter schützt statt Opfer

Es ist also ein geradezu niederschlagender Nebeneffekt der PKS, die Organisierte- und Bandenkriminalität zu fördern und schützen, statt die notwendigen Zahlen zu liefern, um sie wirksam zu bekämpfen und sinnvolle Prävention zu betreiben. Diese Erkenntnis kann ohne Übertreibung als dramatisch bezeichnet werden.

Wie es besser gehen könnte – moderne Analysesoftware als Lösung

Dies zu ändern ist nicht schwer. Politiker mit BISS könnten, mittels professioneller Analysesoftware wie etwa „QLIK sense“14, die verschiedenen Datenbanken von Polizei, Justiz und anderen Behörden datenschutzkonform verknüpfen, Arbeitsabläufe transparent machen und Ermittlungsverfahren und Präventionsprogramme auf ihre Effektivität hin bewerten. Internationale Konzerne nutzen diese Software schon lange, um Schwachstellen in Unternehmensabläufen zu finden und zu visualisieren. Aber dann geht das Dunkelfeld verloren, in dem sich die Verantwortlichen gerne verstecken, wenn es hart auf hart kommt.

Forderung: Transparenz durch Bewertungs-Scores in der PKS

Damit dies in Zukunft nicht mehr möglich ist, fordert BISS, dass die Zahlen der PKS in Zukunft mit einem Score, ähnlich dem Energielable, versehen werden. Ein Buchstabe nach der Zahl gibt dann deren Zuverlässigkeit an und den Einfluss des Dunkelfeldes auf diese Daten. Ein „A“ würde dann für eine hohe Zuverlässigkeit stehen, ein „D“ würde die Zahlen zu Sexualdelikten ergänzen.

Für das Leid, das den Opfern widerfährt und den finanziellen Schaden für die Gesellschaft, sollten in der PKS ebenfalls Daten abrufbar sein. Das wäre mit der entsprechenden Analysesoftware schon heute durchführbar. So wäre es möglich das gesamte Ausmaß der Kriminalitätsentwicklung für die Bevölkerung transparent zu machen.

Gesetze am Limit: Die unterschätzte Bedrohung durch Messerangriffe

Was ebenfalls erst durch das Dunkelfeld hindurch ans Licht kommt, ist die Tatsache, dass unsere Gesetze der Kriminalität nicht mehr Herr werden. Insbesondere die Angriffe mit Messern werden nicht nur in ihrer Häufigkeit, sondern auch in ihrer Gefährlichkeit massiv unterschätzt. Jeder Angriff mit einem Messer ist potenziell tödlich oder kann so ausgeführt werden, dass die Tötungsabsicht verschleiert wird. Dieses Thema wird hier noch besondere Aufmerksamkeit erfahren.

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